Tagebuch Eintrag 2
Lange halten wir es in der Stadt nicht aus, denn es gibt nicht so viel zu sehen und es zieht uns in die Natur. Ich habe viel von den beeindruckenden Gebirgen Rila und Pirin gehört, darum haben wir uns dafür entschieden in den Pirin-Bergen für ein paar Tage zu wandern. In Outdooractive fanden wir in der Vorbereitung eine fantastische Route entlang einiger Berghütten vorbei an den Dreitausendern Pirin und Wichren:
Wir packen unsere Sachen und finden einen Bus, der uns über fünf Stunden Fahrt bis nach Bansko bringt, dem Ausgangspunkt unserer mehrtägigen Bergexpedition mit dem Ziel, das Gebirge zu durchqueren und auf der anderen Seite im Dorf Melnik wieder zur Zivilisation zurückzukehren. Soweit die Theorie. Sicherheitshalber lassen wir einen Teil unserer Sachen in der Unterkunft in Sofia, um Gewicht zu sparen.
Die Busreise ist harmlos verlaufen und wir stellen fest, das vom gefürchteten Temperament des Balkans in Bulgarien nichts zu spüren ist. Die Leute sind extrem tiefenentspannt und der Verkehr ist gesitteter als in Deutschland.
Ein paar Vokabeln trainieren wir auf dem Weg:
Благодаря | Blagodarya | danke |
Моля | Molya | bitte |
Фактура | faktura | rechnung |
Здравейте | zdraveite | hallo |
добър ден | Dobur den | Guten Tag |
Извинете | Isvinite | Entschuldigung |
Наздраве | Nasdrave | Prost |
Um vom zentralen Busbahnhof (Ironie-Alarm: es handelt sich um eine halb verfallene Baracke) die Innenstadt zu finden bekommen wir schon einen ersten Vorgeschmack auf unsere Wanderung. So zentral ist der Busbahnhof gar nicht, daher müssen wir noch ein paar Kilometer marschieren.
Wir haben keine Ahnung von dem Ort und geben uns auch nicht die Mühe auf unsere Mobiltelefone zu schielen. Wir marschieren drauflos und orientieren uns daran zu schauen, in welche Richtung die Hausfassaden schöner werden. Schließlich kommen wir wirklich auf einen Platz, von dem wir beschließen, dass es wie das Zentrum einer kleinen Stadt aussieht. Kopfsteinpflaster, über alle Maßen traditionell aussehende Restaurants, ein Kirchturm mit einem bewohnten Storchennetz drauf – wenn das nicht der Stadtkern ist.
Bansko ist ein idyllisches kleines Städtchen mit einer hübschen Altstadt einerseits, andererseits ist es aber auch ein boomendes Ski-Resort, in welchem es im Winter turbulent zugehen muss wie in einem Freizeitpark. Das ergibt Sinn, denn von den Preisen her ist Wintersport in Bulgarien eine konkurrenzfähige Alternative zu den teuren Ländern Mitteleuropas.
Wir lassen keine Zeit verstreichen und testen sofort eines der Restaurants am Platz. Das Essen ist gut, es hat guten Schopska-Salat (mein persönlicher Favorit in diesem Land) und das Bier ist kalt. Zimmer hat das Lokal auch, besser kann es nicht laufen.
Wir decken uns mit den nötigsten Lebensmitteln ein, etwas Brot und Wurst, sowie Obst und hoffen, auf Berghütten unterwegs weiteren Proviant kaufen zu können.
Es hat ein wunderbares Licht in diesem Ort an diesem Abend und wir genießen es, durch die mittelalterlichen Gassen zu streichen. Überall gibt es Lokale mit leckerem Essen und gutem Wein, die zum Verweilen verführen. Katzen streichen um unsere Beine. Schon in Sofia ist uns aufgefallen, dass es in diesem Land auffallend viele Straßenkatzen gibt, die dezent in kleinen Gärten balgen oder an Orten des Essens harmlos wirkend um die Beine der Gäste schnurren.
Ein freundlich wirkender Herr lädt uns in sein leeres, aber sehr schön gelegenes Restaurant ein, und da wir gerade nichts besseres zu tun haben und uns der Mann so sympathisch ist nehmen wir das Angebot an. Während er uns einen Rotwein einschänkt, welcher für mich der leckerste der Reise sein sollte, erzählt er uns in auffallend gutem Deutsch, dass dieser kleine Platz mit dem Brunnen früher einmal eigentlich der richtige Stadtkern gewesen sein. Der Ort sei allerdings arg zerfallen mit der Zeit, doch der Ski-Tourismus war die Rettung für die Stadt. Seine Deutsch-Kenntnisse verdankt er einer längeren Zeit des Arbeitens in Deutschland – wie viele Menschen aus dem Balkan.
Während wir durch die Straßen laufen fallen uns an zahlreichen Türen Anschläge auf mit Todesanzeigen. Es hat etwas morbides durch die Gassen zu laufen und so viele Todesanzeigen um sich herum zu lesen, dass man den Eindruck bekommt, zu Zeiten des Krieges oder einer Pandemie eine Geisterstadt zu betreten. Doch auch wenn sich die Welt in der aktuellen Covid-19 Krise befindet hat Corona diesmal mit diesem Phänomen nichts zu tun.
Bei etwas Recherche stelle ich fest, dass die Toten so schnell begraben werden, dass kaum Zeit für eine Benachrichtigung der Freunde und Verwandten ist, besonders wenn die Infrastruktur wenig ausgebaut ist. Daher werden diese Todesanzeigen nicht nur an die Häuser der Verstorbenen gepinnt, sondern auch an Arbeitsplätze, Öffentliche Plätze oder Lieblingskneipen. Nachts ist es fast totenstill. Wir sind auch die einzigen Ausländer in der Stadt, soweit wir das sehen können. Ob das an Corona liegt oder daran, dass Bulgariens Bergland noch nicht vom Tourismus entdeckt worden ist, kann ich nicht sagen. Wir lassen den Abend ausklingen und bereiten uns innerlich auf die Strapazen der nächsten Tage vor.