Tagebuch Eintrag
Bei dem Land Kambodscha fallen nicht viele Dinge zu ein, doch für zwei Dinge ist das Land bekannt: das unglaubliche Angkor Wat, die gewaltige Tempelanlage, die noch nicht vor allzu langer Zeit im Dschungel gefunden wurde, und der schreckliche Völkermord unter der Herrschaft Pol Pots und der Roten Khmer.
Ich muss das eine, wie das andere kennenlernen, um dieses Land kennenzulernen. Angkor Wat kommt später, wenn ich nach Siem Riep fliege. Heute besuche ich die nahegelegenen „Killing Fields“ – ehemalige Reisfelder, die ein großer Schauplatz der Verbrechen der Roten Khmer waren.
Die Roten Khmer
Die Roten Khmer waren eine kommunistische Guerilla-Bewegung in Kambodscha, die unter der Führung von Pol Pot in den 1970er-Jahren an die Macht kam. Ihre Geschichte ist eng mit dem Vietnamkrieg und dem Kalten Krieg verknüpft.
Die Bewegung entstand in den 1960er-Jahren als kommunistische Untergrundorganisation, die gegen die Regierung von Prinz Norodom Sihanouk kämpfte. Nach einem Putsch 1970, bei dem General Lon Nol die Macht übernahm, eskalierte der Bürgerkrieg. Die Roten Khmer gewannen an Einfluss und wurden von Nordvietnam und China unterstützt.
1975 eroberten sie die Hauptstadt Phnom Penh und errichteten ein radikales kommunistisches Regime.
Das Ziel war eine klassenlose Agrargesellschaft – Städte wurden entvölkert, Geld abgeschafft, Religion verboten. Intellektuelle, Lehrer, Mönche und vermeintliche Regimegegner wurden systematisch verfolgt. In nur vier Jahren starben schätzungsweise 1,7 bis 2 Millionen Menschen durch Hunger, Zwangsarbeit, Folter und Hinrichtungen – etwa ein Viertel der Bevölkerung.
1979 wurde das Regime durch eine Invasion Vietnams gestürzt. Die Roten Khmer zogen sich in Grenzregionen zurück und führten noch bis in die 1990er-Jahre einen Guerillakrieg. Pol Pot starb 1998, ohne je vor Gericht gestellt worden zu sein. Erst Jahrzehnte später wurden einige führende Mitglieder vom internationalen Khmer-Rouge-Tribunal verurteilt.
Mit einem gemieteten Kleinbus und dem Guide Mo fahren wir zu einer Schule, die Pol Pot in seiner Herrschaftszeit zu einem Konzentrationslager umfunktionierte. Der Bau ähnelt von außen noch einer Schule, im Innenhof wachsen wider wilde Blumen und Orchideen. Doch um das Gebäude verläuft eine Mauer. Alles ist mit Stacheldrahtzaun versehen. Der Guide führt uns durch die einzelnen Räume, Klassenzimmer, zu Gefängniszellen umfunktioniert, allein mit einer Stahlpritsche in der Mitte des Raumes. Neben den Pritschen kleine Blechbüchsen, die Toiletten der Gefangenen, die alle zwei Wochen mal geleert worden waren.
Der „Political Potencial“, abgekürzt Pol Pot, war Anführer der Roten Khmer, einer kommunistischen Armee, die nach dem Zusammenbruch des französischen Kolonialreiches 1973 noch die letzten der Franzosen in Kambodscha bekämpften und vertrieben. So wurden sie als Befreier gefeiert. Pol Pot marschierte in Phnom Penh ein und erklärte den Leuten, sie müssten innerhalb von drei Tagen die Stadt verlassen, da es noch „innere Feinde“ zu bekämpfen gäbe. Wer nicht rechtzeitig entkam wurde erschossen.
In nur vier Jahren starben schätzungsweise 1,7 bis 2 Millionen Menschen durch Hunger, Zwangsarbeit, Folter und Hinrichtungen – etwa ein Viertel der Bevölkerung.


Die Terrorherrschaft Pol Pots begann. Er hatte das Ziel aus Kambodscha einen kollektiven Bauern- und Arbeiterstaat zu machen und verfolgte Intellektuelle und Ausländer. Sie wurden verschleppt oder umgebracht, während Menschen, die zur Schule gegangen waren oder sonst eine Ausbildung hatten gnadenlos gejagt, gefoltert und Konzentrierungslager gesteckt oder auf die „Reisfelder“, auch „Killing Fields“ geschickt wurden. Auch die Familien derjenigen, die eine Schule besucht hatten, wurden hingerichtet. Es wurde kein Unterschied zwischen Männern, Frauen, Kindern oder Alten gemacht. Insgesamt kam bis zum Ende 1979, als die vietnamesische Armee dem Spuk ein Ende bereitete, ein Viertel der Bevölkerung Kambodschas ums Leben. In Kambodscha sind kaum alte Leute zu finden.
Das Verbrechen war die Bildung!
Neben den Pritschen hängen Bilder der dort Gefolterten oder Verstorbenen. Die Foltern waren reine Willkür, denn das „Verbrechen“ war die Ausbildung, und die Verhöre nur weitere Marter.
Sie wurden gerade soweit versorgt, dass sie für weitere Torturen am Leben blieben.
Um „schuldig“ zu sein reichte es schon, eine Brille zu tragen!
Pol Pot ließ von jedem Gefangenen Fotos machen. Die Galerien sind endlos, allein ganze Räume mit Bildern von Kindern, unschuldige Gesichter, die trotzig oder gebrochen in die Kamera blickten, dieses grausame Schicksal nicht begreifend und nicht ahnend, kurz nach der Aufnahme getötet zu werden. Tausende von Männern und Frauen, jung und alt. Und gleichzeitig gab es auch Aufnahmen von den Wachleuten, die jedes Jahr neu „ersetzt“ wurden, denn die komplette alte Wachmannschaft wurde erschossen, jedes Jahr aufs Neue. Die Wachleute waren vorwiegend junge Männer, Halbstarke, in Grausamkeit geschult und im Blutwahn mordend und folternd im Namen Pol Pots. Es gab fünf Männer, denen die Flucht gelang, und nur durch sie wurde bekannt, was innerhalb dieser Mauern geschah. Einer malte seine Erinnerungen in Öl auf Leinwand, Darstellungen von Misshandlungen, Folter und Tod.



In Kambodscha sind kaum alte Leute zu finden.
Die wenigen, die es gibt, sind meistens verkrüppelt.
Mir ist unaussprechlich flau im Magen, vor dem Tor belagern uns wieder Bettler und Krüppel, wohlweislich gezeichnet durch genau diese Zeit. Ich treffe Ian außerhalb in einem Café. Er tut sich das Museum schon lange nicht mehr an. Es vergeht einige Zeit bis wir wieder vollzählig sind, abgesehen von Glen. Die Bettler verfolgen jeden von uns fast bis in den Bus hinein und klopfen an die Scheiben. Der Fahrer erkämpft sich seinen Weg und wir verlassen die Stadt um zu den Killing Fields zu kommen.
Der Tag ist sonnig, der Weg besteht nur aus Schlaglöchern, um uns herum liegt eine weite Ebene, Reisfelder, aus denen viele vereinzelte Palmen ragen.
An einem Souvenirladen vorbei kommen wir auf das Museumsgebiet. Die Mitte bildet ein großer, schöner Pagodenturm. Doch das Grauen erfasst uns, als wir sehen, dass in dem Turm ein riesiger Glaskasten ist, der vom Boden bis zur gut dreißig Meter hohen Spitze und den ganzen Innenraum des Turmes einnimmt. Der ganze Kasten ist bis zum letzten Eck angefüllt mit Totenschädeln. Die Schädel wurden aus dem angrenzenden Fluss gefischt, erzählt unser Guide. Dem Glauben nach haben die Seelen der Verstorbenen nur eine Chance auf Wiedergeburt, wenn die Körper vollständig beerdigt werden. Doch die Roten Khmer wollten die Toten so noch zusätzlich schänden.
Um den Gedenkturm herum liegen hunderte von Löchern, Massengräbern, welche mit bis zu fünfhundert Leichen angefüllt waren.
Der Ort ist grauenhaft schön, liegt paradiesisch in der Sonne und zwischen Bäumen, die Lift ist frisch, doch der Boden, auf dem man geht, ist übersäht mit kleinen, menschlichen Knochensplittern und Zähnen, die wie Kiesel von den Schuhen auseinandergekickt werden. Der Guide zeigt uns einen Baum, er sieht aus wie eine große Agave.
Er erklärt, wie nützlich der Baum ist, aus den Blättern kann man Fasern für Seile und Matten gewinnen, das Harz ist ein hervorragender Brenn- und Klebestoff und das Holz gut in jeder Verarbeitung. Doch die Blätter sind gezackt und von den Gardisten für grausame Verstümmelungen an den Gefangenen vorgenommen worden, langsamste und schmerzvollste Enthauptungen. Er zeigt uns einen anderen Baum, der aussieht wie eine alte Feige, und erklärt, wie sie Säuglinge an den Beinen packten und dagegen schlugen um sie umzubringen, oder sie auf Spieße warfen, oder einfach in die Luft warfen, um sie wie „Tontauben“ mit ihren Gewehren abzuschießen. Schwangere Frauen schlitzten sie in kranker Neugier auf. Eine Gedenktafel nennt die Grausamkeit Pol Pots schlimmer als Hitler und seinen Holocaust. Ich bezweifle, dass die Verfasser einmal in Auschwitz zu Besuch waren.




Ich frage den Guide, wie es ihm erging, da er alt genug scheint die Zeit erlebt zu haben. Nun, er sei knapp mit dem Leben davon gekommen, als kleiner Junge, der sich durch Diebstahl oder einfachste Kost, Wurzeln und Würmer am Leben hielt, während die Hälfte seiner Geschwister in der Folge der Hungersnot ums Leben kam. Er sei auch schon knapp Gardisten entkommen, die ihn zum Spaß hatten töten wollen. Letztendlich überdauerten er und seine Familie die qualvolle Zeit, bis das Regime von der vietnamesischen Invasion beendet wurde.
Mir ist schlecht. Hinter einem Stacheldrahtzaun rufen ein paar Kinder, als sie sehen, dass ich zu ihnen schaue, rufen sie: „One, two, three – smile! Sir, one, two, three – smile! Photo, Photo, please Sir!“ Es kommen mehr, Kinder und Verkrüppelte, Amputierte und Verwachsene, die betteln.

Der Guide lädt uns zum Essen zu sich nach Hause ein
Am Ende unseres Ausflugs auf die Killing Fields lädt uns der Guide Mo für diesen Abend zu sich nach Hause zum Essen ein und wir sagen natürlich zu. Ian prophezeite uns schon, dass seine Frau die beste Köchin ist, die er kenne und auf der ganzen werden wir nicht mehr so ein tolles Essen haben.
Also verabreden wir uns gemeinsam mit Tuk-Tuks zu dem Haus der Familie zu kommen. Das Haus liegt in einem Vorort der Stadt und ist auch nur ein einfacher Pfahlbau. Sobald wir die Tuk-Tuks verlassen kommen uns auch schon sofort viele Kinder entgegen, die uns an die Hand nehmen und zum Haus führen. Ich habe sogar zwei Kinder an den Händen. Wir kommen an einer Schule vorbei, in welcher noch Kinder sitzen und schreiben. Es ist sieben Uhr und stockfinster. Ein Kind nimmt mich an die eine Hand und Mia an die andere und führt uns zu Haus. Wir werfen uns einen vielsagenden Blick zu.
Wir werden von der Familie herzlich begrüßt. Unser Freund stellt seine Frau und seine zwei kleinen Kinder vor. All die anderen Kinder sind von den Familien, die auch in dem Haus leben und den Häusern drumherum.
Wir setzen uns in das Wohnzimmer, also das einzige Zimmer neben Küche und Schlafraum, auf den Teppich. Die Wände sind mit voll Bildern Buddhas und Kalenderbildern der königlichen Familie. Am Fuß der Wand steht ein kleiner bunter Hausaltar mit Buddha-Bildchen und noch qualmenden Räucherstäbchen. Nach etwas freundlichem Plaudern trägt uns die Familie ein riesiges Mahl auf: Frittierte Bananen und kleine Frühlingsrollen mit einer klaren Chilisauce, Reis und Nudeln mit Fleischklößchen und Gemüse, Curry mit Huhn und Ananas und einen Amok, eine Art Fonduetopf, mit Fisch, Gemüse, Zwiebeln und Bananenblättern in einer feinen Brühe. Ich bin ich wirklich so satt, dass ich sprichwörtlich keinen Pieps mehr sagen kann.
Wie in Vietnam ist es leider Tradition, dass die Gastgeber das Essen nicht mit ihren Gästen teilen, damit sie voller Aufmerksamkeit für sie sorgen können.
Unser Gastgeber erzählt uns auf unsere Bitte seine Geschichte, während er bei uns sitzt und seine kleine Tochter auf seinem Rücken turnt. Als Junge habe er sich dann ein Motorrad besorgt um Touristen zu fahren, aber der Konkurrenzkampf war einfach enorm. Doch durch die Touristen lernte er etwas Englisch, und schließlich gab ihm ein Australier den Tipp auf seine Mütze zu schreiben „I speak English“. Er befolgte den Rat und hatte viel Erfolg damit, denn die Sprachbarrieren brachten oft Missverständnisse, so dass den meisten Touristen ein Englisch sprechender Fahrer um einiges lieber war. Auf seinen Fahrten erzählte er seinen Gästen auch immer etwas von der Gegend, und einmal fragte sein Fahrgast ihn dann, ob er nicht Lust hätte ihn und seine Gruppe etwas durch die Gegend zu führen. Er bekam einen Auftrag nebenher immer wieder Gruppen zu führen, er verdiente so etwas Geld dazu und sein Englisch verbesserte sich enorm. Zusätzlich konnte er nun auch noch Kindern Englisch Unterricht geben.
Im Moment könne er leider nur Unterricht geben, weil so viele Gruppen leider nicht kämen und er vor ein paar Wochen einen Unfall gehabt hat. Der Fall war eindeutig, der andere Motorroller nahm ihm die Vorfahrt. Die Justiz funktioniert in dem Land üblicherweise jedoch so, dass der mit mehr finanziellen Mitteln Recht bekam. Der andere war aber genauso arm und konnte den Schaden nicht wieder gut machen. Sie mussten beide zweihundert Dollar für die Polizisten und den „Verarbeitungs-Aufwand“ aufbringen, was das Geld von ein paar Monaten war. Und der Roller ist kaputt.
Wir verabschieden uns herzlich, dann bringen uns die Kinder wieder zu unseren Tuk-Tuks. Später sammeln wir noch etwas Geld zusammen, das Ian der Familie noch einmal extra zukommen lassen soll für die Reparatur des Motorrads.
Für mich ist die Zeit in Phnom Penh zu Ende. Wir nehmen am nächsten Morgen ein kleines Flugzeug, dass uns in die Stadt Siem Riep nahe Angkor Wat bringt.

